Ein Abend der großen Gefühle

Nicht selten sind es Kleinigkeiten, die sich hinter etwas Großem verstecken und erst dann ein klares Bild ergeben, wenn man ganz genau hinschaut. Nehmen wir dieses wunderbare Jubel-Foto, das unser Fotograf Andreas Chuc am Montagabend in der Kabine geschossen hat. Erwachsene Männer, die jubeln wie die kleinen Kinder. Jedes Gesicht ein einziger Freudenschrei. Und vorne sieht der aufmerksame Betrachter zwei Trikots mit den Namen Erk und Pawlenchuk. Das ist natürlich kein Zufall. In den Minuten nach dem unglaublichen Husarenstreich gegen die schier übermächtigen Kassel Huskies denken die Sieger an ihre Teamgefährten, die an diesem historischen Abend nicht dabei sein konnten. Zumindest nicht auf dem Eis, denn Marius Erk lag zu Hause mit einer heftigen Grippe.

Schon zwei Tage zuvor, als der große Favorit das Duell Nummer 5 in Kassel mit 2:1 gewinnen konnte, hätte Erk, dieser Mentalitätsspieler, eigentlich nicht auflaufen dürfen. Er tat es dennoch, obwohl eben nicht bei Kräften. Genauso wie Patrick Seifert, der sich angeschlagen durch diese intensiven Spiele schleppte. Und Grayson Pawlenchuk? Nach der Genesung von Jerry Pollastrone als fünfter Kontingentspieler nur Zuschauer. Bitter für den Kanadier.

Dieses Bild aus der Kabine sagt mehr als 1000 Worte. Wir könnten nun an diesem Tag danach schweigend genießen, aber das würde dem emotionalen Ausnahmezustand in dieser eishockeyverrückten Region nicht gerecht werden.

Die Serie 2023 gegen Kassel wird natürlich in die Geschichtsbücher eingehen. Nicht nur, weil der EC Bad Nauheim zum ersten Mal nach 24 Jahren wieder ein Finale erreichte. Damals, am 25. April 1999, hatte Peter Draisaitl mit einem verwandelten Penalty die ESC Moskitos Essen in die Bundesliga geschossen und die vielen mitgereisten Fans des EC Bad Nauheim in ein Tal der Tränen gestürzt.

24 Jahre später, DEL2, Halbfinale, Hessen-Derby: Alle Vorzeichen sprechen für den Souverän der Hauptrunde. Die Kassel Huskies hatten 47 der 52 Spiele gewonnen, unglaubliche 212 Tore erzielt. Weißwasser im Viertelfinale im Schnelldurchgang erledigt und damit ein Selbstvertrauen getankt, das den Verein zurück in die DEL katapultieren sollte.

Allerdings, schon zweimal hatte der EC den Huskies in der jüngeren Vergangenheit einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Wir blicken zurück: Am 21. April 2013 triumphiert das Team von Coach Frank Carnevale im fünften und entscheidenden Match in Kassel mit 3:2. Das Tor von Brad Miller, erzielt in der neunten Minute der Overtime, läuft noch heute in allen Erinnerungs-Videos rauf und runter. Bad Nauheim feiert in Kassel die Oberliga-Meisterschaft und den Aufstieg in die neu gegründete DEL2. Im Kader des EC Bad Nauheim: Harry Lange!

Und vergangene Saison stehen sich die beiden Rivalen schon im Viertelfinale gegenüber. Diesmal in einer dramatischen „Best of seven“-Serie. Kassel führt schon mit 2:0, dann fighten die Roten Teufel zurück und erkämpfen sich eine 3:2-Führung. Spiel sechs im Colonel-Knight-Stadion holen sich die Schlittenhunde mit einem unglaublichen 5:0-Auswärtsstreich. Die Wende? Es scheint alles für den ECK zu laufen, Spiel sieben findet am 29. März 2022 statt. Am Morgen dieses Tages erreicht Trainer Harry Lange eine Hiobsbotschaft nach der anderen. Acht Cracks können wegen einer Corona-Infektion nicht mitfahren. Und erneut geschieht ein kleines Wunder. Bad Nauheims Rumpf-Aufgebot dominiert mit 7:3.

Kassel hätte also durchaus gewarnt sein müssen, denn die aktuelle Mannschaft der Roten Teufel ist nahezu identisch mit dem letztjährigen Team. Klar, die Huskies hatten nach der Enttäuschung in der vergangenen Saison mächtig aufgerüstet und sehr viel Geld investiert. Das bekam auch Bad Nauheim zu spüren. Tristan Keck, erfolgreichster Torjäger der Rot-Weißen, wurde nach Kassel gelockt. Auch der übraus talentierte Keeper Philipp Maurer, den Harry Lange sehr gerne behalten hätte, konnte das lukrative Angebot der Huskies nicht ausschlagen.

Und diese Serie begann auch so, wie es viele erwartet hatten.

Freitag, 31. März: Kassel dominiert und überrollt den EC Bad Nauheim ziemlich locker mit 6:3. Alles klar? Es scheint so.

Sonntag, 2. April:  Dem EC gelingt nach einem Blitzstart (3:0-Führung in der zehnten Minute) ein 4:1. „Wie“, fragte Harry Lange hernach in kleiner Runde, „wollen wir gegen diese Mannschaft noch dreimal gewinnen? Die sind richtig, richtig stark”.

Dienstag, 4. April: Alles ist angerichtet für den nächsten Sieg der Huskies. Das 1:4 zwei Tage zuvor in Bad Nauheim? Ein Ausrutscher, so denken viele in Kassel, aber Bad Nauheim hat Blut geleckt. Mit Felix Bick in der Form seines Lebens und dem treffsicheren Jordan Hickmott (Tore zum 1:3 und 1:4) führt der klare Außenseiter im letzten Drittel mit 4:1. Am Ende verkürzen die Hausherren noch auf 3:4, aber plötzlich liegt das Lange-Team in der Serie vorne. Jetzt wird es ein bisschen fies und auch kindisch. Die HNA-Sportredaktion veröffentlicht tatsächlich einen Artikel, der nur eines im Sinn hat: Unruhe im Lager der Roten Teufel stiften. Sinngemäß heißt es dort schwarz auf weiß, Felix Bick werde nach Krefeld wechseln und Mick Köhler nach Augsburg. Keine großen Neuigkeiten, schließlich geistern diese Gerüchte seit geraumer Zeit durch die Medien. Allerdings setzt der Sport-Chef persönlich noch einen drauf und stellt wirklich die Frage, wie sich der Torwart in einem möglichen Finale gegen Krefeld verhalten würde.

Die Reaktion im Lager des EC Bad Nauheim: Schmunzeln. Die journalistische Meisterleistung der HNA wird natürlich nicht kommentiert.

Donnerstag, 6. April: Felix Bick ist der Torwart mit den 1000 Händen und Daniel Weiß, dieser unglaublich willensstarke Eishockeyspieler, erzielt beim 1:0 den einzigen Treffer. Der Wahnsinn geht weiter.

Samstag, 8. April: Es schaut nicht gut aus. Einige Cracks sind nicht fit. Marius Erk und Patrick Seifert steigen dennoch in den Bus. Die Abfahrt vom Kurpark gerät zur rot-weißen Wolke. Die Fans verabschieden das Team mit viel Rauch und glänzen in Kassel mit einer Choreographie. Grandios! Doch die Huskies sind an diesem Samstag zu stark. Erstmals wieder dabei ist Top-Verteidiger Steven Seigo, zudem Hans Detsch, der für noch mehr Physis sorgen soll. Der EC kommt kaum zu Angriffen, Kassel führt durch die Tore der Ex-Nauheimer Tristan Keck und Jamie Arniel verdient mit 2:0. Jordan Hickmott schafft überraschend den Anschluss, und dann passiert etwas, das dem EC Mut gibt. Kassel wackelt bedenklich. In den letzten Sekunden schwimmen die Huskies und verteidigen mit größter Mühe das knappe 2:1.

In der Kabine der Roten Teufel herrscht hernach Stille. Noch immer führt der Außenseiter mit 3:2. Harry Lange spricht zur Mannschaft. „Wir müssen besser spielen“, sagt der Coach. Verteidiger Kevin Schmidt, eine Führungspersönlichkeit, ergreift das Wort. „Jungs, heute haben die es mehr gewollt. Abhaken. Am Montag geht es von vorne los.“ Harry Lange wirkt in der Pressekonferenz wie immer: sachlich, fair. Und er wiederholt, Kassel sei zum vierten Mal die bessere Mannschaft gewesen. Ein Fuchs.

Montag, 10. April: Das Team trifft sich vormittags zur Videoanalyse. Harry Lange und Adam Mitchell zeigen einige Sequenzen. Geredet wird nicht viel. Jeder weiß, heute kann Geschichte geschrieben werden. Dann kommt der Anruf von Marius Erk. Der Verteidiger, ein Mentalitätsspieler und extrem wichtig, liegt im Bett. „Wenn Marius sagt, er kann nicht, dann kann er wirklich nicht“, lautet Harrys nüchterne Feststellung. Adam Mitchell, zuständig für die Abwehrspieler, verordnet Kevin Schmidt, dem Mann mit der Pferdelunge, Doppelschichten. Der 37jährige spielt an der Seite von Patrick Seifert und übernimmt an den Erk-Part mit Philipp Wachter. Schmidts Pensum, einfach überragend.

Wie zu jedem Heimspiel glänzt die Südkurve mit einer Choreographie. Da steht auf einem Banner zwischen rot-weißen Fahnen: „In der Kurstadt kannst jeden fragen, mein Herz für Nauheim wird für immer schlagen“. Gänsehaut. Es knistert. Die Spannung steigt. Showdown.

Zweimal gerät der EC in Rückstand, zweimal trifft Tim Coffman zum Ausgleich. In der ersten Pause sprechen die Trainer zum Team. „Genau so weiter machen, wir sind gut drin.“ Kassel wirkt nicht so energisch und frisch wie im Samstagspiel. Die Fans spüren, die Sensation liegt in der Luft. Der Rest ist ein Film, der so surreal ist, dass die Fans fast schon ihre Gesänge vergessen. Es ist unwirklich. Es ist teuflisch. Kassel kassiert acht Gegentreffer! Dieses Ausnahmeteam wird komplett in alle Einzelteile zerlegt. Taylor Vause, dieser wunderbare Filigran, trifft vier Mal und beseitigt endgültig alle Zweifel.

Das Sturm- und Drang-Stück des EC Bad Nauheim endet mit Bildern, die immer in Erinnerung haften bleiben. Fassungslose Spieler der Huskies, grenzenlose Jubelarien der Sieger.

Ein Abend der großen Gefühle.

Foto: Chuc.de