Ein Team schreibt Geschichte

Sonntag, 19. März, später Abend: Der Mannschaftsbus des EC Bad Nauheim ist auf der Heimreise. Von Kaufbeuren Richtung Wetterau. Die Spieler versuchen zu schlafen. Erschöpft und müde sind sie alle nach dem zweiten Auswärtssieg in einer Halle, die mal eine Festung war. Zumindest für den ESVK. Gegen Bad Nauheim hagelte es in der Vergangenheit Siege. Ein Lieblingsgegner, die Nauheimer. Jetzt aber sitzen die Sieger im Bus. Schon wieder gewonnen! Zum zweiten Mal in einer Playoff-Serie, in der die Rollen zuvor klar verteilt schienen. Hier der Favorit, dort der Außenseiter. Aber diesmal ist alles anders und auch ein bisschen unwirklich. Dieses unglaubliche Team hat das rot-weiße Trikot mit Leidenschaft und Mentalität getragen und für eine niemals zuvor geglaubte 3:0-Führung gesorgt. Im Bus herrscht Stille. Die meisten Cracks kennen die Gesetze der Playoffs. Ein Gesetz lautet: Der vierte Sieg ist immer der Schwerste. Also, kein Grund zur ausgelassenen Freude. Eisbeutel spielen eine große Rolle, um die vielen blauen Flecken zu kühlen.

Unten im Bus sitzen die Betreuer und die Trainer. Harry Lange und Adam Mitchell haben permanenten Kontakt nach Hause. Die medizinische Abteilung ist mal wieder gefragt. Marc El-Sayed hat einen Puck gegen den Hals bekommen. Philipp Wachter kann vor Schmerzen kaum laufen. Andy Pauli, der sich schon in den Spielen zuvor mit muskulären Beschwerden plagte, musste im letzten Drittel draußen bleiben. Grayson Pawlenchuk war Anfang des letzten Drittels in die Bande gerauscht. Das sah schlimm aus. Der Mannschaftsarzt der Kaufbeurer hatte den Kanadier versorgt (DANKE!) und signalisiert, dass Grayson transportfähig sei. Jordan Hickmott hat ebenfalls Probleme nach drei kräftezehrenden Spielen innerhalb von fünf Tagen.

Harry und Adam diskutieren. Immerhin, Marius Erk darf am Dienstag wieder mittun. Was ist mit Mick Köhler? Kann Jerry Pollastrone nach seiner langen Verletzungspause in solch einem intensiven, harten und schnellen Duell auflaufen oder ist das Risiko zu groß? Haben wir mehr als fünf Verteidiger? „Denn“, sagt Harry Lange, mit nur fünf Verteidigern gegen eine solche Top-Mannschaft wie Kaufbeuren, das ist eigentlich nicht zu schaffen“.

Es ist ein gnadenloser Wettlauf gegen die Zeit. Oberstes Credo: alles bleibt intern, keine Information dringt nach draußen, nur der innere Zirkel ist informiert. Niemand, schon gar nicht der Gegner, darf erfahren, wer angeschlagen ist, wer spielen kann, wer eventuell ausfällt. Das ist normal in den Playoffs, aber diesmal ist es ziemlich dramatisch. Denn eines ist den beiden Coaches, die schon viele Playoffs als Spieler erlebt haben, klar: Wenn Kaufbeuren am Dienstag in Bad Nauheim möglicherweise ohne Druck aufspielt, kann sich das Blatt durchaus wenden.

Montag, 20. März: Die angeschlagenen Cracks sind beim Arzt oder beim Physio. Nur zehn Akteure absolvieren ein leichtes Training. Die Trainer warten auf die Ergebnisse des Medical-Teams. Es gibt viele Fragen. Wer ist fit? Pawlenchuk? El-Sayed? Köhler? Hickmott? Wachter? Pauli? Wie fühlt sich Jerry? Tobi Wörle schaut vorbei. Er fehlt, der Routinier. Ein Playoff-Monster, wie es im Eishockey-Jargon heißt. Wörle wäre so wichtig, aber er wird nicht mehr helfen können. Der Tag zieht sich dahin. Dann, gegen Abend, kommt eine Zusammenfassung der Ärzte. Per whatsapp. Eine Liste, erschreckend lang. Es sieht gar nicht gut aus. Die meisten Entscheidungen werden vertagt. Auf Dienstag, den Tag des vierten Spiels.

Dienstag, 21. März: Der Tag beginnt mit Hiobsbotschaften. Mick Köhler, der schon im zweiten Match nach nur fünf Minuten raus musste, wird wieder nicht dabei sein können. Pawlenchuk, zuverlässiger Torschütze, ist ebenfalls raus. Pollastrone? Harry Lange spricht mit dem erfahrenen Haudegen. Eigentlich sollte der Stürmer noch eine Woche warten bis zu seinem Comeback, aber Jerry will es probieren. Ein Risiko, keine Frage. Philipp Wachter humpelt durch das Stadion, es geht nicht, obwohl er unbedingt will. Hickmott hebt den Daumen, er ist dabei, das ist eine gute Nachricht. Es sind noch drei Stunden bis zum Spiel. Die Presse fragt zum xten Mal, wer ausfällt, wer spielt. Schweigen, keine Antwort, alle halten dicht.

Die Anspannung steigt. Zwei Stunden bis zum Spiel. Das Ticketing läuft, die 4000er-Marke wird geknackt. Das an einem Dienstag, mitten in der Woche. Sensationell.

Jetzt erst wird das Geheimnis gelüftet. Die offiziellen Mannschaftsaufstellungen gehen online. Der EC wieder mit nur fünf Verteidigern. Der nächste Nackenschlag kommt. Andy Pauli ist beim Warm-up dabei, aber es geht nicht. Der Wühlbüffel bleibt in der Kabine. Nachher erzählt Harry Lange, dass es Spieler gab, „die hatten Tränen in den Augen, weil sie nicht spielen konnten“. Keine Frage, das war auch Pauli, der mit dem großen Kämpferherzen.

Die Stimmung im CKS: grandios. Die Choreo der Südkurve: wunderbar.

Nach 50 Sekunden der nächste Schock. Tim Coffman muss mit einem Cut über dem Auge in die Kabine. Mit zwölf Stichen wird der Top-Scorer genäht. Er kommt zurück, mit einem dicken Pflaster und einem Gesichtsschutz. Die Fans toben und tragen die um jeden Zentimeter fightende Mannschaft durch die 60 Minuten. Sie werfen sich in jeden Schuss, feuern sich gegenseitig an und zum krönenden Ende trifft Marius Erk aus 55 Metern zum 5:1-Endstand.

Vier Spiele, vier Siege. Gegen Kaufbeuren, den starken Angstgegner. Gegen alle Widerstände. Trotz aller gravierenden, personellen Probleme.

Bad Nauheim erlebt einen unvergesslichen Eishockeyabend. Wir verneigen uns vor diesem Team, das Geschichte geschrieben hat.

Foto: Chuc.de